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Vic & Julian
© Bild: PinkDot

Pro & Contra: queere Sichtbarkeit

„Out of the closets and into the streets!“ – so lautete einst der Appell an die queere Community. Mit steigender queerfeindlicher Gewalt wird der alte Slogan heute wieder brisant: Wie viel Sichtbarkeit ist gut für uns – und für wen eigentlich? Bedeutet Sichtbarkeit Empowerment oder ein gefährliches Risiko? PINKDOT-Redakteur*innen Vic und Julian liefern ein Pro und Contra zur Frage: Was bringt’s, wenn wir sichtbar sind – und was kostet es uns? Spoiler: Es geht nicht nur um Nagellack und Flaggen-Emojis, sondern um Sicherheit, Privilegien und die Frage, ob man sich für den Pride Month eigentlich unsichtbar machen darf.

Pro (Julian):

„You can’t be what you can’t see“ – dieses Zitat der US-amerikanischen Aktivistin Marian Wright Edelman ist eines, das mir sofort einfällt, wenn ich an die Relevanz von queerer Sichtbarkeit denke. Wo wären wir heute ohne unsere fearless Vormütter und -väter, die in brenzligen Zeiten ihre Sicherheit und Gesundheit aufs Spiel gesetzt haben, um für unsere Rechte und Freiheiten zu kämpfen? Auch heute geht man als queere Person nicht sicher durch die Welt, insbesondere Trans*women of Color oder andere von Intersektionalität betroffene Queers. 

Die Gewaltbereitschaft gegenüber LGBTQI*-Personen nimmt wieder zu und auch die Politik wendet unserer Community bisweilen den Rücken zu. Sollte man dies nicht eher als Appell sehen, sichtbarer zu sein bzw. sich zumindest in der eigenen Sichtbarkeit nicht einschränken zu lassen? Spricht da der privilegierte queere weiße Cis-Mann aus mir? Sichtbarkeit beginnt ja aber auch nicht nur bei uns im Alltag. Edelmans Zitat bezieht sich ebenso auf die mediale Repräsentation von Queers. So brachte Tom Hanks’ Darbietung in “Philadelphia” einen ‘nahbaren’ AIDS-Kranken auf die Leinwände einer Zuschauendenschaft, die sich bis dato nicht oder nur stigmatisiert mit diesem Thema befasst hat. Marvel’s “Black Panther” gab Kids of Color endlich das Gefühl, auch ein Superheld sein zu können. Wann spielt die erste trans*Person of Color eine tragende Rolle in einem Big Budget Film? 

Wie wohl mensch sich mit der eigenen queeren Sichtbarkeit fühlt, sollte ganz individuell entschieden werden. Natürlich gibt es Gegenden oder Umstände, in denen es sich zu unsicher oder unwohl anfühlt. Es braucht ja auch eine eigene Entwicklung, um sich zu trauen, zur eigenen Identität zu stehen. Wenn sich nun aber alle Mitglieder der LGBTQI*-Community zurückziehen und sich gegen Sichtbarkeit entscheiden würden, spielen wir nur den Politiker*innen und Menschen in der Bevölkerung in die Karten, die wollen, dass wir verschwinden. Und Sichtbarkeit kann alles sein. Tragt den Nagellack, gebt eurer Nahperson einen Kuss, fahrt auf einen Queer Pride in einer Stadt, in der es ein Gegenaufgebot gebt. Wo auch immer ihr euch mit wohlfühlt. Nicht jede Person ist eine Marsha P. Johnson oder ein Harvey Milk. Aber wir alle können dazu beitragen, dass Queers sichtbar sind und bleiben und ein großer Teil davon ist es, weniger privilegierte Gleichgesinnte ebenfalls zu unterstützen.

Contra (Vic):

Fakt ist: Wir leben heute in extrem queerfeindlichen Zeiten. Aber genau das müsste doch der Grund sein, sich jetzt umso lauter und bunter zu zeigen, oder!? Stimmt. Sichtbarkeit war schon immer ein wirksames Mittel unseres Widerstands. Falls du genau das gedacht hast: fair enough – very true. Vielleicht heißt es aber auch, dass du privilegiert bist und es dir leisten kannst, sichtbar zu sein und Widerstand auf die Straße oder in die Öffentlichkeit zu bringen. Das gilt längst nicht für alle Queers, zumindest nicht, wenn sie einen hohen Bedarf an Schutz haben. Dies trifft gerade auf mehrfach marginalisierte Queers zu: Queers of Color; muslimische Queers; Queers, die aufgrund ihrer Sexualität oder Geschlechtsidentität fliehen mussten; Queers, die nicht geoutet leben können oder wollen; und Queers, die weiterhin durch strukturelle Diskriminierungen – wie Barrieren in öffentlichen Räumen – unsichtbar gemacht werden.

Leider bedeutet Sichtbarkeit nicht nur, sich selbst zu empowern, sich zur Community zugehörig zu fühlen oder füreinander erkennbar zu werden. Sie bringt auch Risiken mit sich – und das nicht zu knapp. Wer sichtbar wird, wird es natürlich auch für die cishetero-Gemeinschaft. Und das führt oft zu nervigen, übergriffigen – und leider auch gewaltvollen – Situationen. Wir werden plötzlich zu Expert*innen für „alle queeren Angelegenheiten“ – als wären wir eine homogene Einheitsmasse. Wir werden zum Objekt einer voyeuristischen hetero-Begierde und unsere Identität und Kultur zur Spielwiese pink gewaschener, kapitalisitischer Firmen, die aus unserer Beauty längst ein Geschäftsmodell gemacht haben, aus dem sie Profit schöpfen können – ohne, dass wir etwas vom Kuchen abbekommen! Nein, danke.

Natürlich geht es bei Sichtbarkeit nicht zuerst ums Äußere – aber eben auch. Einige von uns entscheiden sich bewusst dafür, sichtbar zu sein, um sich gegenseitig in der Community erkennen zu können (neben dem Kampf um Anerkennung und Existenzrecht). Ein sozialer und gesellschaftlicher Druck lässt leider oft nicht lange auf sich warten, da es sich bei dieser Form von Sichtbarkeit vorwiegend um visuelle Codes handelt, die am Ende das reproduzieren, was wir als Queers so ablehnen: Normen. Ja, wir brauchen diese Codes – woher soll ich sonst wissen, ob du auch lesbisch bist? Und ja, diese Codes machen Queers, die sich mit diesen Codes nicht identifizieren können, noch unsichtbarer! Ein Teufelskreis.