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Interview mit Sonja M. Schultz: „Ich mag es, wenn es nach Straße klingt.“

Geboren und aufgewachsen in Schleswig-Holstein, arbeitet Sonja M. Schultz heute als freie Autorin, Filmwissenschaftlerin und -journalistin in Berlin. Mit 27 Jahren begann sie, Lyrik und Kurzgeschichten zu veröffentlichen, trat auf Spoken-Word-Bühnen auf und legte 2012 mit ihrer preisgekrönten Doktorarbeit „Der Nationalsozialismus im Film“ ein Standardwerk der Filmwissenschaft vor. Nach ihrem Romandebüt „Hundesohn“ (Kampa, 2019) feiert nun der Aufbau-Verlag mit der Veröffentlichung ihres zweiten Romans „Mauerpogo“ sein 80. Jubiläum. Für PINKDOT sprach Bastian Peters mit der Autorin.

Erst einmal Glückwunsch zum neuen Roman, über den wir gleich reden. Als queere Person bedanke ich mich zuerst dafür, dass mir eine weitere überzuckerte Coming-out-Romanze erspart blieb, und als Ostdeutscher bedanke ich mich, dass DDR weder als Hölle hinterm Eisernen Vorhang skizziert noch ostalgisch verklärt wird. Beides wurde ja in „Mauerpogo“ glücklicherweise umschifft.

Es war tatsächlich eine bewusste Entscheidung, die Protagonistin Jo ganz selbstverständlich queer sein zu lassen, ohne das gesondert zu behandeln. Zum einen ist das Thema des Buches ein anderes, zum anderen gefällt mir auch selbst als Leserin, wenn queere Figuren in der Literatur eine Normalität leben. Das Betrachten der DDR wiederum funktioniert nicht ohne Ambiguität. Im Fall von „Mauerpogo“ erlebt Jo eine glückliche Kindheit wie so viele, die erst später begannen, die eigenen Lebensumstände politisch einzuordnen. Der Gedanke, dass etwas im System nicht stimmt, kommt Jo erst mit der beginnenden Pubertät und ihren neuen Erfahrungen, aber das zerstört nicht ihre ersten glücklichen 14 Jahre. Magische Momente und Momente von Freiheit und Schönheit gibt es eben auch in autoritären Systemen, das haben mir viele ostdeutsche Freundinnen gespiegelt, als wir über ihre Kindheit sprachen. Mir war wichtig, das einzubringen. 

Schon die Exposition von „Mauerpogo“ ist wie eine Granate: Eine Vierzehnjährige in der DDR wird 1982 von der Punk-Kultur gebissen. Was hat dich nach deinem St. Pauli-Krimi „Hundesohn“, der kurz vor Corona erschien, sechs Jahre später in die Zone getrieben?

Mein erster Roman handelt von toxischer Männlichkeit, von vermeintlich harten und stark alkoholgetränkten, maskulinen Welten. Auch wenn ich den Protagonisten Hawk immer noch sehr mag, hatte ich hinterher Lust auf eine starke Heldin. Das war der Ausgangspunkt: Die Suche nach einer coolen, starken Frau, die schnell ist im Kopf, Fantasie hat und sich mit ihrem Körper und ihrer Innenwelt wohlfühlt. Über die Kabarettistin Sigrid Grajek traf ich dann Kim, die als Punk in Karl-Marx-Stadt gelebt hatte, und die sehr offen ihre Erfahrungen mit mir teilte, wofür ich ihr unendlich dankbar bin. Auch ihre Stasi-Akte durfte ich lesen. Dennoch wollte ich nicht Kims Lebensgeschichte dokumentarisch nachbilden, sondern nahm ihre Biografie nur in Teilen als Basis für die weitere Recherche und für das Buch, in das auch viele Erzählungen, O-Töne und historische Details anderer Gesprächspartnerinnen eingeflossen sind. Am Ende hat sich alles vielstimmig zu einer Geschichte verwoben.

Was hat dich beim Schreiben über den Ost-Punk fasziniert? 

Die politische Sprengkraft von Punk in der DDR und damit einhergehend die Radikalität dieser Jugendkultur. Aber auch die Kreativität, wenn es um das Erfinden eigener Outfits oder Instrumente ging. Anders als im Westen gab es keinen Zugang zu bestimmter Mode, zu kommerziellen Accessoires oder Haarfärbemitteln. Anfangs gab es nicht einmal Vorbilder, wie ein Punk denn so aussieht. Kim etwa hat mit der Geflügelschere Dreiecke aus Ofenblech geschnitten und die als Schmuck für fünf Mark das Stück verkauft oder aus Türschonern dann Badges mit Schriftzügen gebastelt. Die Leute haben auch eigene Klamotten genäht und gefärbt, einen individuellen Stil erfunden. Und es gab auch keine offiziell erlaubten Orte für Punks und ihre Musik, also musste man auch da erfinderisch sein und entweder privat in irgendwelchen Kellern auftreten oder unter dem Dach der Kirche. Dieses Selbst-Machen setzt viel kreative Energie frei, das fand ich als Autorin total aufregend. 

Neben Punk und DDR geht es auch um queeres Erblühen. Warum war dir das jetzt wichtig, nachdem es in deinem ersten Buch fast völlig fehlte?

Naja, in „Hundesohn“ gab es einen kurzen lesbischen Sidekick und dazu noch die Figur der Zweimeter-Inge, eine trans Sexarbeiterin. Für „Mauerpogo“ schien die Queerness aus verschiedenen Gründen einfach stimmig. Ich wollte eine junge Frau in den Mittelpunkt stellen, aber hatte überhaupt keine Lust, dass sie sich in einen Typen verliebt. Zumal ein heterosexuelles Mädchen in der männlich dominierten Punk-Szene auch Dynamiken mit sich gebracht hätte, die mich nicht gereizt haben. Stattdessen hat es mir gefallen, von selbstbewusster Queerness zu erzählen. Und ein Teil von mir wollte auch über eine Pubertät schreiben, wie ich sie selbst gern gehabt hätte: wild und experimentell. 

Der Roman liest sich wie aus einem Guss, da sitzt jedes Wort und landet jede Emotion. Wie durchdacht hast du dich vor das erste weiße Blatt gesetzt? 

Ich hatte zu Beginn nur eine grobe Ahnung, wie die Geschichte enden könnte. Und ich hatte ein Bild im Kopf: die letzte Kameraeinstellung bei „Thelma & Louise“, in der das Fluchtauto über die Klippe schießt und im Freeze-Frame hängenbleibt. Bei einer Geschichte über verfolgte Punks in der DDR kann es kein totales Happy End geben, darf es vielleicht auch nicht. Aber ich wollte trotzdem die Kraft und das Utopische bewahren, die Lesenden sollen das Buch auch beflügelt schließen. Ausgehend von diesem Wunsch hat sich der Roman dann Stück für Stück selbst geschrieben, aus den Figuren heraus. Das hat dann allerdings viele Jahre beansprucht, während ich mich von Jahrhundertepidemie zu Schreibblockade zu Lebenskrise und wieder zurück zum Punk hangelte. 

Trotz des historisch düsteren Hintergrunds kichert dein Roman, er wird rot, rebelliert wie ein ostdeutscher Teen. Und ich freue mich als einstiges DDR-Kind natürlich, dass ich eine Sprache wieder treffe, die ich nirgendwo sonst mehr lese. Das war offensichtlich dein Anspruch? 

Es klingt banal, aber: Ich finde die Besonderheiten von Sprache unglaublich spannend. Sprache der Achtziger, regionale Eigenheiten, Jugendslang... Ich mag, wenn es nach Straße klingt. Es muss echt sein. Ich wollte den Gefühlshaushalt von Jo nicht nur in der Ich-Perspektive und aus dem gegenwärtigen Präsens heraus erfahrbar machen, sondern auch in ihrer charakteristischen Sprache, nicht in meiner. Also habe ich bei den Spaziergängen mit Kim in Chemnitz, aber auch bei den Gesprächen mit Anderen ständig spezifische Ausdrücke und Eigenheiten in mein Notizbuch gekritzelt, seitenweise. Zum Beispiel, dass die Kletten im Hundefell Soldatenknöpfe heißen oder dass man im Pressluftschuppen tanzen konnte. Auch den für Jo entscheidenden Satz habe ich von einer Ex-Ostpunkerin aufgeschnappt: „Bleib wie du bist, das ist Pflicht!“

Tatsächlich liest sich dein Buch wie die unaufgeregte Normalität in einem Land, das nicht mehr existiert und dessen Erinnerung auch verschwindet. Andererseits stellst du dem Roman die Behauptung voran: „Stimmt. So ist es nicht gewesen.“ Was meinst du damit?

Mein Anspruch war, innerhalb der Geschichte stimmig zu bleiben. Dazu gehörte, möglichst keine faktischen Fehler einzubauen, zumindest keine allzu auffälligen. Schon das Bedienen von Waschmaschinen hat sich ja sehr zwischen Ost und West unterschieden, die Produkte, Lebenswelten, Spracheigenheiten. Ich wollte wissen, wie der kalte Tee im Ferienlager gerochen hat oder was der Geschmack im Mund nach dem Neptunfest war. Manches wird dennoch für manche „so nicht gewesen“ sein. Und anderes ist dreist erfunden, wie die Strumpfmaschine, an der Jo arbeitet. Trotz seines historischen Hintergrunds ist der Roman ganz bewusst Dichtung. Und ich finde, das darf er auch sein.  

Deine Heldin Jo ist im Roman 14 Jahre alt, heute wäre sie 57. Wie würde sie wohl auf den Mauerfall und die deutsche Einheit blicken?

Puh – was für eine Frage! Ich würde ihr wünschen, dass sie in den letzten Jahren der DDR einen Weg gefunden hat, sich nicht brechen zu lassen, integer zu bleiben und ihre Erlebnisse vielleicht auch zu Kunst zu verarbeiten. Die Frage nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung und dem Sprung ins Neue ist ja: Welche Wunden sind noch da, welche Menschen hat man verloren – vielleicht ja sogar sich selbst –, und wie geht man mit all dem um? Der Mauerfall hat Millionen Biografien komplett durcheinandergewirbelt. Bin ich nach dem Umsturz froh, plötzlich freier entscheiden zu können? Oder fühle ich mich abgehängt? Wer bin ich im Heute, da Gestern nicht mehr existiert? Vielleicht hätte Jo ein zerrissenes, wildes, schmerzvolles, aber auch authentisches Leben.

Großen Dank für das Gespräch, und viel Erfolg auf deiner Lesereise.