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Queer, queerer, Whole: Was war los auf dem ausverkauften Festival? Von einer Verspätung des Bassliners über phänomenale Performances und DJ-Sets, Workshops und Talks, Installationen und Filmvorführungen, Cruising und Sauna, bis hin zu überfüllten Dark Rooms und umstrittenen Sex Spaces – es ist einiges passiert auf dem sechsten Whole.

 

Etwa 9000 Queers waren am ersten Augustwochenende auf dem Whole in Ferropolis – dem Festivalgelände bei Gräfenhainichen in Sachsen-Anhalt, bekannt als „Stadt aus Eisen“. Die Kräne des stillgelegten Braunkohleabbaus stehen immer noch auf dem riesigen Areal am Gremminer See und wirken durch bunte Beleuchtung als Kunstinstallation und imposante Artefakte. 

Bassliner let‘s go! Oder: 7 Stunden später...
Wer mit dem Bassliner anreiste, musste sich auf massive Verspätungen durch einen geplatzten Kühlerschlauch am Bus einstellen. Stundenlanges Warten mit der Polizei an der Tankstelle – doch die Stimmung ließ sich nicht trüben, die Anreisenden starteten einen Mini-Rave und machten erste Bekanntschaften. Das Einchecken mit Camper oder Zelt am Festivalgelände erwies sich ebenfalls als Geduldsspiel: die Schlangen waren ultralang und die Wartezeit erheblich. Bedauerlicherweise paarte sich das mit Regen und Bewölkung – schlechte Laune vorprogrammiert. Am frühen Nachmittag klarte das Wetter jedoch auf und das Festival konnte starten. Jetzt musste nur noch das Cashless-Bändchen aufgeladen werden, und ab ging’s mit dem Shuttle zum Gelände.

Plavalaguna und The Blessed Madonna
Die House-Ikone The Blessed Madonna postete auf Instagram kurz vor dem Festival die Info, dass sie auf Grund einer Fußverletzung „nicht raven kann“, doch schnell wurde für Ersatz gesorgt und fka.m4a gebucht. Der japanische DJ Nobu riss als Headliner des ersten Tages die Hauptbühne des Festivals gekonnt ab. Auch Bashkka mit Roi Perez sorgte für ordentlich Stimmung auf der Forest-Stage und überraschten zwischen Ballroom Techno und Speed House mit Salsa. Audiovisuelles Highlight bildet die Beach Stage: die ins Wasser gebaute Bühne erinnert an die blaue Alien-Diva Plavalaguna aus dem Sci-Fi-Klassiker Das fünfte Element und überzeugte durch die darauf projizierten Visuals. Housige Vibes und discolastige Sets machten das Tanzen im Sand oder Wasser zu einem Erlebnis. DJs wie Marie Malarie aus London, Dragmother von The Death of Gitter aus Kapstadt, die französische Jennifer Cardini mit Pablo Bozzi oder das New Yorker Duo Musclears zeigten, wie fein kuratiert und divers das Line-Up des Festivals war. Sicherlich ein Anspruch des selbst betitelten „United Queer Festival“, alle Queers zusammen zu bringen – was gleichzeitig die besondere Herausforderung darstellt.

 

Beach Stage auf dem Whole Festival

Ropes, Showcases und Talent Shows
Die Performances werden mit einem „Mummification and Rope Ritual“ von Marco & Ennio im Tree House eröffnet, die zwischen Grenzen und Intensitäten changiert und dabei ihre eigene Ästhetik darstellen. Später wird auf der Performance Stage „Whole’s Got Talent“ gesucht, und die Crème der queeren Szene ringt um das 500-Euro-Preisgeld und bringt dabei das Publikum zum ausrasten. Die Macho Sluts interpretieren Tom Finland im Tree House, Queer Falafel zerschmettern mit ihrer musikalischen Tanzdarstellung neoliberale Ideale und thematisieren Privilegien.

Raus aus Europa
Zwischen einem Doppeldeckerbus und direkt vor einem Kran vibriert die Crane Stage, eine der diversesten Bühnen auf dem Festival, musikalisch geprägt von Südamerika und allem, was nicht europäisch ist. Die DJs aus Kolumbien, Mexiko und Brasilien bringen Tribal Vibes der Extraklasse ins Publikum, das hemmungslos twerkt oder ‚wie ein Hund‘, also Perreo, tanzt. Dazu gibt es die Trina Stage, die neben DJ-Sets auch Talks, Workshops und Speed Dating anbietet, exklusiv für BIPoC Queers.

Nüchtern auf dem Festival?
Dass Substanzen auf dem Whole konsumiert werden, bleibt an dieser Stelle eine steile These – sicher ist jedoch, dass es einen Sober Space gibt für Personen, die nüchtern bleiben wollen: hier wird connected, getanzt und gemeinsam fertig gemacht. In verschiedenen Workshops wie der „Self-Regulation Station“ oder dem „Reset & Rave“ können sich Sober Buddies finden und austauschen. Am letzten Tag des Festival gelingt der Ausklang mit einem „Soft & Sassy Send-off“ im Sober Space. Zudem gibt es eine Teststation, um Substanzen auf mögliche Verunreinigungen testen zu lassen, sowie Infotafeln über verschiedene Trenddrogen wie Mephedron. Dadurch schafft das Whole eine kritische Auseinandersetzung mit Konsum und beweist, dass es dem Wohlergehen der Besucher*innen besondere Aufmerksamkeit widmet, was sich auch in der Auswahl der Food Spots abzeichnet.

 

Forrest Stage auf dem Whole Festival

Sexy Whole: Wer mit wem, wie und wo?
Der „Pillow Palace“ war letztes Jahr das Highlight für jede FLINTA – vor allem, weil es exklusiv war. Doch nach hitziger Diskussion gab es 2024 keinen expliziten FLINTA Space: DTF steht für Down to F***, soll Dykes, Trans* und Faggots ansprechen und einen sexpositiven Raum darbieten, mit Spotlight für SM und Fetisch. Dominant vertreten waren hier vor allem weiße schwule cis Männer; erst am Sonntag nutzen vermehrt FLINTA Personen den Raum für sich. Diese Dynamik zieht sich tendenziell durchs gesamte Festival: Die Mehrheit des Publikums sind weiße schwule cis Männer, höchstens 20% des Publikums sind FLINTA oder BIPoC. Schwule Praktiken findet man(n) ausgiebig im Cruising Village – ein ganzes Dorf im Wald voller Möglichkeiten für weiße schwule cis Männer, hier ihre Fantasien auszuleben. Kunstvoll gestaltete Ecken, die dazu einladen, sexuell zu werden oder eine verwegene Stimmung schaffen, sind vor allem mit Blowjobs und Analverkehr besetzt. Sie werden als „Whispering Nymph‘s Enchantment“, „BDSM Architecture Darkroom” oder “Lucid Acid” betitelt. Hier ist es immer voll. Auch direkt hinter der Arena Stage gibt es das mit rotem Licht geflutete „Hell (W)Hole“, ein Darkroom, der die meiste Zeit wegen Überfüllung einen Einlass-Stop hat. Tagsüber gibt es die Möglichkeit beim Wholistics-Zelt, in der Form eines Polyeders, sich massieren zu lassen – der Tantric Taster Saturday ist natürlich schnell ausgebucht.

Solidarität, Barrierefreiheit, Awareness
Das reguläre Whole-Ticket beläuft sich auf 265 € für das Wochenende. Wer früh dran war und Glück hatte, konnte ein Early-Bird-Ticket für 150 € ergattern. Vor allem in der queeren Community sind häufiger ökonomische Barrieren vorhanden: Deswegen wurden Zugangsmöglichkeiten für Personen mit kleinem Budget eingerichtet, für Refugees, PoC, Betroffene von Behinderung oder Fettfeindlichkeit sowie für Schwarze und trans Personen, die dadurch Nachteile auf dem Erwerbsmarkt erfahren. Es gab daher 1000 Community-Tickets für 182 € auf Vertrauensbasis für jene mit geringem Einkommen. Dabei folgte das Festival dem Leitsatz von Adrienne Maree Brown: Trust the People, and they become trustworthy. Anders organisiert waren die Soli-Tickets, welche Zutritt, An- und Abreise, Zelt sowie Essens- und Getränkegutscheine für Queers aus Berlin beinhalteten. Hierfür war eine Bewerbung nötig, die anonym einer Jury (Schwarzen, trans und nichtbinären Crewmitgliedern) vorgestellt wurde. Aus 300 Bewerbungen wurden 150 Queers ausgewählt, die das Soli-Ticket dann erhielten. Wer ökonomisch besser gestellt war, hatte die Möglichkeit zu spenden. Über das Festivalgelände verteilt gab es vier Awareness-Zelte, deren Bestzung dauerhaft und erkennbar unterwegs waren. Der Code of Conduct gab wohlgemeinte Handlungsanleitungen, die das Potenzial haben, zu einer transzendenten Erfahrung zu führen. Und ja, Spiritualität war präsent, doch um tatsächlich gemeinsam über die Grenzen der Existenz zu kommen, wäre es notwendig, dass alle offen, respektvoll und im Einklang mit den gemeinsamen Werten handelten.

Evakuierung und wilde Gerüchte
Samstag Nacht, Zentrum des Festivals, zur Prime Time um 23 Uhr: Die komplette Beach Area muss evakuiert werden. Ordner*innen und Awareness-Personen sagen alle denselben Satz in derselben ruhigen Stimmlage: „Please go to the Arena Stage, due to technical issues we need to close the whole Beach Area.” Ganz gemächlich machen sich Tausende zur Wanderung auf, es ist dabei beunruhigend still. Viele gehen sofort zum Campingplatz zurück, andere bleiben überfordert und ahnungslos in der Nähe der Kräne stehen. Im Forum der Whole-App wird übertrieben spekuliert: “something really bad happened (death)”, oder “It’s confirmed, FLINTAs were trying to make a riot over the gay darkroom and burn some fuzzes and cables”, gefolgt von “Dear FLINTA please don’t plan a Darkroom riot again. You see what’s happened“. Andere Nachrichten beinhalten die Ankunft von Beyoncé, um so den Auflauf von Polizei und Paramedics zu erklären. Erst nach geraumer Zeit kommt auf Instagram eine Story mit vager Info: “The entire Forest Area needs to be evacuated due to Security reasons. No one is in danger, we are simply following protocol, please cooperate.” Bei vielen ist die Feierlaune getrübt und die Menge teilt sich auf zwei Stages auf, die dadurch überfüllt sind. Erst nach vier Stunden, gegen 3 Uhr morgens, wird die Beach Area wieder geöffnet: „We were following protocol surrounding a threat we can only now verify as fake. Thank you all for your cooperation.” Was bleibt, ist ein bitterer Nachgeschmack, da immer noch unklar ist, was tatsächlich passiert ist, und gleichzeitig deutlich wurde, dass gegen FLINTA-Personen gehetzt wird.

 

Arena Stage auf dem Whole Festival

Talks, Movies & Souna
Neben Raven und Sex bietet das Whole auch politisiche Talks, queere Movies und eine Sauna mit audiovisuellen Installationen: Diese „Souna“ wird gestaltet vom Kollektiv RISS und Golden Diskó Ship und lädt ein, sich der physischen Erfahrung von Ton und Licht hinzugeben und selbst aktiv zu werden nach dem Motto: „Let‘s come home a little different“. Auch hier leider nur mit Reservierung, daher lange Wartezeit und oft ausgebucht.

Das Finale
Eris Drew und Octa Octa legen Montagmorgen ab 4 Uhr das Closing hin, gegen 7 Uhr wird applaudiert und umarmt – das Whole ‘24 ist zu Ende. Stunden später herrscht Aufbruchstimmung, Zelte werden abgebaut, Mülltüten befüllt und abgegeben, um den Müllpfand von 10 € einzulösen. Die Essensstände am Campingplatz sind noch stark besucht, hier dröhnt Musik und der Moment der Verabschiedung wird hinausgezögert. Die meisten Queers haben ihre Abreise organisiert, andere setzen auf öffentliche Verkehrsmittel – den ganzen Montag über sieht man Queers auf Tour und wünscht sich, der öffentliche Raum wäre immer so.

 

PINKDOT-Redakteurin Theresa Bittermann auf dem Whole Festival