Kunst und Kultur für Neugierige
divers, barrierearm und aktuell
© Bild: Jill Evans

Wer Angst hat, braucht Kunst und Kultur

Stell dir vor, Kunst und Kultur wären Personen – sie hätten sicher viel zu sagen. Hanna Rosenthal hat sich im Auftrag von Pinkdot auf die Reise begeben und sie persönlich getroffen. Herausgekommen ist ein Interview, in dem Arte Kunst und Cultura Kultur – aus ihrer Perspektive – über Angst, Freiheit, queere Sichtbarkeit sprechen und darüber, was Demokratie eigentlich zusammenhält.

Das Café in Neukölln ist voll, warm, laut; viele Stimmen vermengen sich     , Gläser klirren – genau so wollten sie es. Sie kommen gemeinsam herein, als wüssten sie längst, dass man sie nur im Duo denken kann. Arte Kunst und Cultura Kultur rücken die Stühle zurecht, entschlossen, fast ungeduldig     . Ich spüre sofort: Sie sind heute nicht zum Plaudern hier.

Hanna: Schön, dass ihr da seid. Die Lage draußen ist… angespannt. Wie geht’s euch damit?

Kunst: Ich kenne Krisenzeiten gut. Ich bin dann oft produktiver als in den guten Phasen. Angst wirft Fragen auf, und Fragen sind mein Lieblingsmaterial. Aber klar: Gerade jetzt ist die Angst oft nicht von der kreativen, sondern von der klebrigen Sorte. Die, die Menschen voneinander trennt.

Kultur: Mir geht’s ehrlich gesagt nicht blendend. Mein antiautoritäres Immunsystem schlägt Alarm. Die Angst reißt längst geschlossen geglaubte Kapitel und Räume wieder auf – und sofort drängen sich Parolen hinein. Ich muss dann herausfinden, wie ich diese Räume zurückerobere und sie mit Menschen fülle, die sich begegnen, streiten, nachdenken. Das kostet Kraft. Ohne mich kippt die Stimmung schneller, als vielen lieb wäre.

Hanna: Aber es heißt doch ständig: „Wir müssen sparen. Kunst und Kultur sind Luxus.“ Wie reagiert ihr darauf?

Kultur: Jahrzehnte voller Debatten und Kürzungen haben ihre Spuren hinterlassen. Doch sobald jemand Kultur als Luxus abtut, bleibt mir nur ein bitteres Lächeln. Luxus ist ein beheizter Pool. Kultur hingegen gehört zur Grundversorgung einer funktionierenden Gesellschaft. Fehlt sie, stumpft eine Gemeinschaft ab, wird ängstlich, manipulierbar.

Kunst: Ich bin nicht das Dekor, ich bin der Rahmen, der sichtbar macht, was in Menschen vor sich geht. Empathie, Kritikfähigkeit, Denken – all das entsteht durch mich. Wer mich wegspart, spart an genau den Fähigkeiten, die Demokratie erst ermöglichen.

Hanna: Besonders marginalisierte Gruppen – queere Menschen, Menschen mit Migrationsbezug und of Color, Menschen mit Behinderung – arbeiten ja oft in engem Kontakt mit euch. Warum?

Kunst: Weil ich Räume schaffe und öffne, die vorher verschlossen waren. Ich bin eine Art Notausgang aus der Norm. Viele queere Menschen haben sich zuerst in Kunst wiedererkannt – nicht im Gesetz, nicht im Rundfunkrat, sondern in Bildern, Texten, Performances. Ich nehme Identitäten ernst und verleihe ihnen eine Sprache, bevor die Gesellschaft bereit dazu ist.

Kultur: Mit mir verankert sich das alles im kollektiven Gedächtnis. Ich mache sichtbar, was und wer sonst übersehen wird. Community-Räume, kleine Bühnen, queere Lesungen, migrantische Theatergruppen – all diese Orte halten Gesellschaft offen und beweglich. Wenn ich schwach werde, verlieren gerade jene Menschen ihren Ort, die ohnehin wenig Sichtbarkeit bekommen – und mehr und mehr verschwinden.

Hanna: Was könnt ihr denn konkret gegen die steigende Angst, gegen die Spaltung tun?

Kunst: Angst will schnelle Lösungen. Ich verhindere das. Ich stelle unbequeme Fragen und gebe keine einfachen Antworten auf komplexe Probleme. Ein Bild, ein Text, ein Song – sie sind Störungen, die Menschen wieder wach machen. Ich bin der Moment, in dem jemand innehält und denkt: „Vielleicht ist da mehr, als ich gerade sehe.“

Kultur: Genau. Gemeinsames Erleben verbindet Menschen, die sich im Alltag aus dem Weg gehen würden. Ein gemeinsames Lachen bewegt manchmal mehr als Wahlprogramme, gemeinsames Weinen nicht minder. Angst verliert an Macht, sobald Menschen sich als Teil eines größeren Wir erleben – und nicht als gegnerische Fraktionen.

Hanna: Aber was passiert, wenn an euch weiter gespart wird?  In der Politik plant man ja weitere Kürzungen fest ein.      

Kultur: Wird mir meine Daseinsberechtigung abgesprochen, werden meine Möglichkeiten zurückgefahren, wird es eng – und eng bedeutet gefährlich. Verschwinden offene Räume, übernehmen jene, die ohnehin laut sind: mit viel Geld, viel Meinung und wenig Empathie. Historisch betrachtet ist es keine Überraschung, dass solche Verschiebungen zu Spaltung, weniger Demokratie und mehr Angst führen.

Kunst: Und die Gesellschaft verliert dann den Spiegel, den ich ihr ständig vorhalte. Eine Gesellschaft ohne Spiegel glaubt irgendwann jede Lüge über sich selbst. Sie hält sich für stabil, obwohl sie bröckelt. Sie hält sich für gerecht, obwohl sie Menschen fallen lässt. Ich bin unbequem, ja. Aber ich bin auch der beste Frühwarnsensor, den es gibt.

Hanna: Manche Menschen sagen, Kunst sollte politisch neutral sein. Was sagt ihr dazu?

Kunst: Neutralität ist ein hübscher Mythos, aber selten wahr. Ich bin nicht neutral. Durch mich zeigt sich, wer sprechen darf und wer nicht. Das ist nie neutral.

Kultur: Neutralität wäre ein Verrat an meiner Aufgabe. Kultur ist der Ort, an dem Gesellschaften lernen, sich selbst auszuhalten. Vielfalt, Ambivalenz, Widerspruch – das ist mein Alltag. Während Politik klare Linien sucht, lebe ich von Farben, Mehrstimmigkeit und Unschärfe. Genau darin liegt meine Stärke.

Hanna: Wenn ihr der Politik eine klare Botschaft mitgeben könntet – welche wäre das?

Kultur: Gesellschaft braucht Räume, in denen Menschen einander wirklich begegnen können – nicht nur Orte zum Konsumieren und Durchströmen. Orte, an denen Menschen sich ansehen und zuhören, nicht nur aneinander vorbeigehen.

Kunst: Und erkennt endlich an, dass Demokratie nicht von oben nach unten funktioniert.
Sie lebt von Beziehung, von Ausdruck, von Selbstkritik. Ich bin kein Beiwerk. Ich bin die Praxis der Freiheit.

Hanna: Was würdet ihr den Menschen sagen, die sich gerade verloren fühlen?

Kultur: Am besten dorthin gehen, wo keine Erklärungen nötig sind.
Wo Dasein reicht. Ich bin meistens genau dort.

Kunst: Vergesst nicht: Mut ist selten ein Gefühl. Mut ist ein Ort. Ihr findet ihn bei mir – immer dann, wenn ihr ihn am wenigsten erwartet.

Hannah: Ich bedanke mich bei euch, Arte Kunst und Cultura Kultur, für dieses Gespräch – und für die Klarheit, mit der ihr uns daran erinnert, warum ihr unverzichtbar seid.