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© Bild: Julia Klein Illustrations

 

Hass im Netz – Eine Abrechnung über ein kollektives moralisches Versagen

 

Der Autor des Kinderbuchs Papi, hast du ein Baby im Bauch? hat mit dem Erscheinen eine Hasswelle erwartet, aber die Seite von der sie kam, war überraschend. Marcel Kahl berichtet über seine Erfahrungen und Strategien und wie wir als Community enger zusammen stehen können.

 

… Ihr verdient … Ich sage nur 9mm …

                                                Hoffentlich nimmt man euch die Kinder weg …

… nicht natürlich …

 

Zeichen der Zeit

In was für einer Zeit leben wir eigentlich? Warum sollten wir uns ein dickes Fell wachsen lassen müssen? Ist der Hass in den letzten Jahren mehr geworden? Sehr viel mehr? Müssen wir uns beleidigen lassen, Hass einfach runterschlucken und solche Kommentare im Netz nur löschen, statt sie anzuzeigen? Wehe, wir reagieren darauf – dann sind es auf einmal wir, die nicht offen für Vielfalt sind und diskriminieren.

Wie bitte?! Es ist also in Ordnung zu beleidigen, aber nicht in Ordnung, wenn wir uns dagegen wehren, weil wir dann der Gesellschaft etwas überstülpen oder gar aufzwingen. Ah ja!
In meiner Jugend kam Hass vor. Vielleicht, weil es eine andere Zeit war oder Kinder einfach auch grausam sein können. Später, schon als Regenbogenfamilie, hatten wir nie wirklich mit Hasskommentaren zu kämpfen. Natürlich hat sich auch mal eine unschöne Bemerkung zu mir verirrt, doch das konnte ich an einer Hand abzählen – bis ich ein Kinderbuch schrieb.
Was für eine Provokation!

Bäm!-Bewusstsein

Uns allen, dem klein & groß Verlag, der Illustratorin Lisa Rammensee und mir, war bewusst, dass das erste Kinderbuch zum Thema „Leihmutterschaft“ im deutschsprachigen Raum zu einem Aufschrei führen könnte.
Wir waren echt mutig, wir drei.
Ich persönlich erwartete Reaktionen, weil wir in meinem Buch:

  1. ein schwules Ehepaar sind,
  2. zwei gemeinsame Kinder haben und
  3. dazu Hilfe von zwei Heldinnen im Ausland fanden.

Ein Cover mit Knalleffekt

Was wir allerdings erlebten und leider noch immer erleben, das hat uns dann doch überrascht.
Papi, hast du ein Baby im Bauch? hat so viel Hass ausgelöst. Und das nicht einmal wegen des Themas „Leihmutterschaft“.
Nein, es ist das Cover, das überaus sauer aufstößt! Und was zeigt es? Mich! Mit dickem Bauch. Den habe ich mir den letzten Jahren zugelegt. Zudem sind zwei Jungs zu sehen, die auf den dicken Bauch deuten und die Titelfrage stellen: „Papi, hast du ein Baby im Bauch?“ (Ist übrigens wirklich so passiert.)

Was geht ab?

Ohne zu wissen, worum es in dem Buch überhaupt geht, springen die stets bereiten Netzrichter:innen aufs falsche Pferd. Sie glauben doch tatsächlich, ich müsse ein trans Mann sein, der ein Baby bekommt. Da spricht nichts dagegen. Aber wer lesen kann, ist klar im Vorteil.
Nope! Fehlanzeige! Ich erkläre im Buch lediglich meinen kleinen, damals noch unwissenden Kindern, dass ich als biologisch geborener Mann keine Kinder gebären kann, und wieso sie dennoch auf der Welt sind. Punkt.

Ich hatte bei der Entstehung des Buches überhaupt nicht daran gedacht, das schöne Cover-Bild könne auf diese Weise interpretiert werden! 

Einlauf der stets Bemühten

Ich war erstaunt, als die ersten Kommentare kamen und ich die Verwirrung bei den Menschen wahrnahm – interessanterweise selbst in und aus der LSBTIQA+ Community. War überrascht von einem anscheinend vorherrschenden Trans-Hass, den es hier wie dort zu geben scheint.
„Befremdlich“, „krank“ und „unnatürlich“ waren noch die harmloseren Begriffe in den Kommentaren.

Wie krank ist das denn?

Leute, ich dachte ernsthaft, wir seien weiter. War – oder bin – ich so naiv?

Natürlich war mir schon vor der Veröffentlichung meines Buches bekannt, dass großartige und engagierte Menschen wie Riccardo Simonetti oder Benedikt Amaro unschöne Kommentare – die eben keine Rezensionen sind – zu ihren wundervollen Kinderbüchern erfahren mussten.

Die sozialen (!) Medien und große Online-Händler sind sich ihrer Verantwortung anscheinend auch nicht bewusst. So wird die Nicht-Löschung gemeldeter Kommentare zumeist mit etwas wie „…verstößt nicht gegen unsere Richtlinien“ begründet. Der Online-Versand-Riese mit dem großen A hatte ein veraltetes Meldewesen, das wohl in der Zwischenzeit geändert wurde. Allerdings darf scheinbar jede Person, ob sie das Produkt nun gekauft hat oder nicht, munter bewerten und rezensieren. Nur, dass das oftmals gar keine Rezensionen sind, sondern purer Hass. Veraltete Richtlinien, die Diskriminierung zulassen, weil „es schon immer so war“ und geschluckt wurde? Desinteresse oder doch kommerzielle Interessen? Hass schürt Aufmerksamkeit und die wiederum schürt Verkauf – frei nach dem Motto „Es ist egal, was sie reden, Hauptsache, sie reden“. Aufwachen! Hass trifft und tut weh. Und es übertritt rechtliche und soziale Grenzen! Und hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun. Ganz im Gegenteil, hier werden andere Lebensweisen, Vielfalt und das Recht auf Unversehrtheit angegriffen.

Selbstversuch: Wehren!

Ich recherchierte.
Es ist interessant, wie viele Beiträge, Artikel, Erklärungen und Forderungen zur Meldung, Anzeige und Bekämpfung des Hasses im Netz vorhanden sind.
Beim BKA waren zu meiner großen Überraschung lediglich drei Kampagnen gelistet. Ich glaube, es sind heute fünf – vielleicht nachdem ich sie alle angeschrieben habe?

Nun ein Selbstversuch!
Ich kontaktierte mal Landkreise und mal Polizeidienststellen. Die waren zumeist wenig hilfreich und ließen sich eher bitten, als „Freund und Helfer“ zu sein. Die dazugehörigen Homepages wirkten auf mich teilweise undurchsichtig, verwirrend und führten nur auf herausfordernden Umwegen oder gleich gar nicht zum Ziel. So fanden etwa Suchfelder keine Treffer auf den Homepages – obwohl es sie gab.

Es sei an dieser Stelle aber auch einmal ganz deutlich gesagt: Es waren auch ein paar wenige, dafür tolle und schnelle Reaktionen dabei! Aber es waren eben zu wenige, um Mut zu machen. Das geht besser! Es muss einfach besser gehen! Wenn ich im Netz Hass erfahre, gar bedroht werde, dann brauche ich SOFORT Hilfe. Ein Bild, ohne lange Texte, ein Button, leicht zu verstehen, direkt zur Anzeige – das brauche ich. Keinen Dschungel. 

Erste-Hilfe-Seiten

Die Bundesländer haben eigene Meldestellen, die man teilweise der Seite des BKA entnehmen kann (BKA - Meldestelle Hasspostings). In der Bio meiner Instagram-Seite stelle ich eine Übersicht von Anlaufstellen der Bundesländer zum Downloaden zur Verfügung.


Wer geholfen hat und wie ich heute damit umgehe

Tatsächlich bin ich erst erwacht, als Riccardo Simonetti einen angezeigten Hasskommentar in den sozialen Medien teilte und der hasskommentierende Mensch prompt eine höhere Geldstrafe zahlen musste. Das machte mir Mut. Ich nahm dem Kampf auf, machte Screenshots zeigte ganz viel an. Ich gebe zu, dass ich das, was da manchmal steht, an den meisten Tagen inzwischen besser abkann – an anderen Tagen gelingt mir das weniger gut.

Was hat sich bei mir getan?

Meine Versuche, hatende Personen für ihre als verleumdend oder als übel nachredend empfundenen Worte anzuzeigen, sind bisher gescheitert. Entweder habe ich zu spät gemeldet oder ich wurde wohl nicht genug beleidigt, angegriffen und/oder bedroht – kotzende Emojis reichen nicht für eine Anzeige. Bravo!

Doch das alles hält mich nicht davon ab, Hass anzuzeigen. Spüren wir denn nicht gerade, dass sich immer mehr Menschen auflehnen und dagegen vorgehen: Das BKA zeigt auf seiner Seite einen rasanten Anstieg an Meldungen von 2.910 Eingängen im 2. Quartal 2023 auf 5.220 im 1. Quartal 2024 – WOW!>

Mein Rat an dich

ZEIG DAS AN! Nimm dir den Moment und überroll die Social Media-Konzerne, die Online-Händler-Riesen usw. mit Meldungen von Hass-Kommentaren. Spende im Gegenzug die berühmten 5* für deinen Lieblings-Autor, Künstler oder wer immer auch zu Unrecht Hass erleben musste. Äußere Kritik fair und als deine, und erst einmal auch nur deine, Wahrnehmung: „Ich fand dieses Buch …“ „Mir hat … nicht gefallen,“ am besten kombiniert mit „weil …“ DAS ist eine Rezension.
Community heißt auch, gemeinsam für etwas einzustehen. CSD´s, LSVD´s, Allys, Orgas, Initiativen und einfach alle, die Platz unter dem Regenbogen finden, dürfen gerne als eine Gemeinschaft, als eine Community dagegen vorgehen! Deswegen zeigt das Titelbild eine entschlossene, wunderschöne, stolze und bunte Gestalt, die sich erhebt und zurückschlägt.
Vielen Dank, Julia Klein Illustrations, für deine sensationelle Kunst und Unterstützung. 
Ihr Bild darf als Symbol des Kampfes gegen Hass gerne geteilt werden!

In diesem Sinne
Sashay away

Euer
Regenbogenpapi