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Q*ino: Wer spielt hier queer – und für wen?

Zwei Jahrzehnte Brokeback Mountain, zehn Jahre Carol – zwei Filme, zwei queere, zwei Hollywood-Meilensteine mit Nebenwirkungen. Während Ang Lees Western-Drama schwules Begehren ins Oscar-Rampenlicht rückte, machte Todd Haynes' lesbische Liebe jenseits voyeuristischer Blicke sichtbar. Beide Filme gelten als Pionierwerke queerer Sichtbarkeit – doch wie viel echte Repräsentation steckt in diesen gefeierten Werken? Was passiert, wenn queere Rollen zum Karrieresprungbrett für hetero Stars werden – und queeres Kino im Mainstream zum gefälligen Wohlfühlbild schrumpft? Wem gehört queeres Kino – und wer darf es erzählen?

20 Jahre Brokeback Mountain: Als es hip wurde, schwul zu spielen

Gehen wir auf eine Zeitreise knapp 20 Jahre zurück ins Jahr 2005. Madonna veröffentlicht ihr letztes gutes Album, Rihanna erscheint auf der musikalischen Bildfläche und es ist bekanntermaßen Karriere-Suizid, wenn Hollywood-Schauspieler schwule Männer spielen. Ang Lees romantischer Drama-Spielfilm Brokeback Mountain basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Annie Proulx und erschien 1997 im The New Yorker. Drehbuchautorin Diana Ossana sah großes Potential für eine Filmadaption. Sofort begann sie mit der Arbeit an einem Drehbuch, das sie noch im selben Jahr an Produktionsfirmen schickte. 

Die Umsetzung gestaltete sich schwierig, da kaum ein Studio an einer Adaption interessiert war. In den späten 1990ern / frühen 2000ern war die queere Sichtbarkeit in Film und Fernsehen noch recht mager und je höher das Budget wurde, desto eher wurden die Finger vom Material gelassen. Namhafte Stars wie Matt Damon, Leonardo DiCaprio und Brad Pitt sollen die Rollen von Ennis Del Mar und Jack Twist abgelehnt haben, bevor Nachwuchsstars Heath Ledger und Jake Gyllenhaal in den jeweiligen Rollen besetzt wurden. Der Film entpuppte sich sowohl als Kritiker*innen-Erfolg, als auch mit einem weltweiten Einspielergebnis von fast 180 Millionen Dollar als Kassenschlager und machte seine zwei Hauptdarsteller zu Superstars.

Schwules Cannes

Seit dem Überraschungserfolg von Brokeback Mountain hat es unzählige Oscar-Bait-Filme gegeben, in denen gut aussehende – primär weiße – Hollywood-Schauspieler schwule Männer spielen und für ihren “Mut” gelobt wurden. Erst jüngst bei den Filmfestspielen in Cannes wurden zwei Filme vorgestellt, die Gay Social Media einen Gay Gasp entlockten: The History of Sound und Pillion. In The History of Sound schlüpfen mit Paul Mescal und Josh O’Connor zwei Stammleinwandschwule in die Rollen der schwulen Protagonisten. Der Film spielt während des Zweiten Weltkriegs und schreit förmlich nach Pinkbaiting meets Oscar Bait. In Pillion spielt Alexander Skarsgård einen Dom Top, der Harry Melling – ja, Dudley Dursley – zu seinem Sub macht. Er untermalte dies mit Pedro Pacal’schen thigh high leather boots auf dem roten Teppich an der Croisette. Insbesondere Skarsgård erhielt viel Aufmerksamkeit für seine Rolle in dem Film, der sich nach einer Mischung aus Femme und Babygirl anhört – kein Kompliment.

Ist Sichtbarkeit gleich Sichtbarkeit?

Gehört es mittlerweile zum guten Ton, als potentieller Hollywood Leading Man schwul zu spielen? Und warum werden cishet-Schauspieler dafür gepriesen, diese “gewagten” Rollen zu übernehmen? Als Call Me by Your Name veröffentlicht wurde, wurden Timothée Chalamet und Armie Hammer in unzähligen Interviews gefragt, wie es sei, einen anderen Mann zu küssen. Warum sollte das überhaupt etwas Besonderes sein?

Obgleich sich seit 2005 viel geändert hat – es ist vielleicht kein Karriere-Suizid mehr, schwul zu spielen – zeigt der Fokus auf cishet-Schauspieler, die queer spielen, dass es gesellschaftlich und auch in Hollywood noch immer nicht die Norm ist, queer zu sein, ergo sich als schwul zu outen noch lange kein Garant für eine stabile Karriere ist, vor allem als Hollywood Leading Man.

 

Zehn Jahre Carol: Zwischen queerer Hoffnung und Pinkwashing

New York in den 1950er-Jahren: Die junge Verkäuferin Therese (Rooney Mara) verliebt sich in die elegante Carol (Cate Blanchett) – eine verheiratete Frau aus der Oberschicht, die mitten im Scheidungskrieg um das Sorgerecht für ihre Tochter kämpft. Zwischen Blicken, Roadtrip und Abhörskandal entfaltet sich eine lesbische Romanze, die an gesellschaftlichen Zwängen zu zerbrechen droht.

Zehn Jahre nach der Premiere auf dem Cannes Film Festival 2015 bleibt Todd Haynes’ Carol ein Meilenstein des Queer Cinema. Basierend auf Patricia Highsmiths Roman The Price of Salt gelang dem Film der Sprung vom queeren Nischenkino in den Mainstream. Mit einer queeren Person hinter und lesbischen Frauen vor der Kamera schafft Carol es, Klischees und Fetischisierungen zu vermeiden und queeres Begehren ohne Voyeurismus zu zeigen. Die Blicke zwischen Carol und Therese sind voller Subtext, Unsicherheit, Sehnsucht. 

Lesbisch ohne tragische Trope

Carol ist ein Beispiel dafür, wie die Tradition tragischer queerer Erzählungen (Brokeback Mountain, Boys Don’t Cry, Blau ist eine warme Farbe, etc.) gebrochen werden kann. Statt – wie üblich – queere Figuren zu bestrafen, zu isolieren oder gar zu opfern, bietet Carol eine offene, eher hoffnungsvolle Vision einer lesbischen Zukunft – auch wenn das Ende ganz und gar nicht dem gewohnten Kitschy-Happy-End hetero Hollywood-Blockbuster entspricht.  Immerhin kein Tod. Das zeigt auch Wirkung für die queere Community: Carol ermutigte queere Jugendliche, sich zu outen – darauf kann der Film durchaus stolz sein!

Oscar-Queerness at its best

Doch wo Carol vor allem im Mainstream gefeiert wird, sind die Meinungen in der queeren Community gespalten. Carol ist ein Oscar-Film, produziert für ein mehrheitlich cishetero Publikum. Er verkauft eine „akzeptable“ Form von Queerness – unbedrohlich, leicht bekömmlich, unpolitisch und weiß – und entschärft somit politische Dimensionen queeren Lebens. Das widerspricht dem Kern queeren Cinemas, welches Queerness nicht nur vor der Kamera, sondern auch hinter der Kamera feierte: gegen den Mainstream, gegen normiertes Filmen für ein hetero Publikum. So ästhetisch der Film ist – seine Queerness bleibt zahm, abstrakt, elegant verpackt. Kein Widerstand, kein Zorn, kein Queer Joy, keine Diversität. Statt Konfrontation: Wohlfühlkino für ein liberales Publikum. Es ist das Dilemma vieler queerer Repräsentationen im Mainstream: Sichtbarkeit, ja. Aber um welchen Preis?

Zehn Jahre später bleibt Carol deshalb beides: ein queerer Klassiker und ein Lehrstück über Pinkwashing. Ein Film, der berührt – und gleichzeitig Fragen aufwirft. Fragen, die wir auch heute noch stellen müssen. Vor allem: Wem gehört queeres Kino – und wer schaut eigentlich zu?