Diese Woche wird die LGBTIQ+ Health Awareness Week zelebriert. Dafür habe ich mich mit meinem ehemaligen Kollegen Ulli Pollack von der Schwulenberatung Berlin zusammengesetzt und darüber gesprochen, wie es ist, sich als schwuler Mann mit psychischen und/oder körperlichen Beeinträchtigungen in der Szene zu bewegen. Darüber hinaus gibt er Einblicke in die Arbeit mit psychisch beeinträchtigten schwulen Männern, bietet Tipps für den Umgang mit eigenen Problemen und teilt darüber hinaus seine Erfahrungen als schwuler Mann, der seit einer Erkrankung am Rollator geht.
Lieber Ulli, was machst du beruflich?
Grundsätzlich erwähne ich immer, dass ich Schauspieler, Tänzer und Sänger bin. Ein Musical-Artist wie man so schön sagt. Nach Jahren auf der Bühne habe ich angefangen, Psychologie zu studieren und bin Diplom-Psychologe. Darüber hinaus habe ich die Zusatzqualifikation zum systemischen Familien- und Paartherapeuten. Seit 1999 arbeite ich bei der Schwulenberatung Berlin, das aber nicht als Psychologe, sondern als psychosozialer Betreuer in mehreren therapeutischen Wohngemeinschaften für schwule Männer mit psychischen Beeinträchtigungen.
Was für Krankheitsbilder begegnen dir in deiner Arbeit?
Ich nenne es immer „das Beste, was die Psychiatrie zu bieten hat“. Ich vergesse jetzt bestimmt ein paar Krankheitsbilder, aber unter anderem arbeite ich mit Menschen mit Borderline, bipolaren Störungen, Depressionen, Schizophrenie, wahnhaften Störungen – da ist alles drin. Für die Bewilligung der Betreuung durch das Amt ist es wichtig, dass eine psychiatrische Diagnose vorliegt.
Warum ist eine Organisation wie die Schwulenberatung Berlin wichtig als Ort für queere Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen?
Ich fange mal am besten damit an, warum unsere therapeutische Wohngemeinschaft (TWG) als erste weltweit entstanden ist: Menschen mit psychischen Erkrankungen haben und hatten es in unserer Welt schwierig. Wenn sie dazu noch queer sind, haben sie ein weiteres „Problem“, das sie bei der Bewältigung ihrer psychischen Beeinträchtigung behindert. Die sexuelle Orientierung sollte dabei keine Rolle spielen. Als die TWG 1998 gegründet wurde, war es noch eine andere Zeit. Ich erlebe aber auch heute noch, dass es mit Ausgrenzung und Widerstand einhergehen kann, wenn man queer ist. Das Thema der sexuellen Orientierung sollte keine „große Sache“ darstellen, wenn man sich um psychosoziale oder psychologische Unterstützung bemüht. Ich höre oft genug, dass es sowas wie die Schwulenberatung heute gar nicht mehr braucht, wir hätten doch alle Rechte, sind gleichgestellt mit dem Rest der Bevölkerung, aber das sind wir natürlich noch nicht. Teilweise auf dem Papier, aber wenn du eine Lieschen Müller fragst, die hat da noch immer was dagegen.
Inwiefern unterscheiden sich psychische Beeinträchtigungen schwuler Männer von heterosexuellen Männern?
Ich stütze mich diesbezüglich gerne auf Studien, die herausgefunden haben, dass die Prävalenz, an einer psychischen Erkrankung zu erkranken, bei schwulen Männern bzw. queeren Menschen höher ist, da sie bereits in jungen Jahren Mobbing, Diskriminierung, Ausgrenzung, etc. erfahren haben. Als Beispiel eine wahnhafte Störung. Ich nehme dabei immer gerne Alice im Wunderland, die sich da unter den Baum runterflüchtet und all diese magischen Fabelwesen trifft. Sie hat sich diese Zauberwelt geschaffen, da es in ihrer Realität Konflikte gab, die sie nicht lösen konnte. Die Frage nach der eigenen sexuellen Orientierung oder Gender-Identität, wenn diese nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht, kreiert einen Konflikt. Der Körper geht damit häufig so um, dass er eine Krankheit entwickelt, man z.B. Stimmen hört, Wahnvorstellungen hat oder „Alle sind gegen mich“-Denkmuster hat. Depressionen gehören aufgrund der Vernachlässigung, des Mobbings oder Eltern, die einen vor die Tür gesetzt haben, sowieso zu den Problemen, mit denen viele queere Menschen zu tun haben. Bei einem Großteil manifestiert sich die Erkrankung oder Beeinträchtigung im Jugendalter, wenn die Thematik des „Andersseins“ ans Tageslicht kommt, für einen selbst und für das Umfeld. Wenn man zu Hause Konflikte hat, die man nicht mehr erträgt, kann eine Erkrankung entstehen. Queere Menschen werden mit vielen Konflikten konfrontiert, die die heteronormative Gesellschaft nicht kennt. Das unterstreicht nochmals, warum eine Organisation wie die Schwulenberatung wichtig ist, da diese Themen nicht nochmals ergründet werden müssen, man sich nicht erklären muss.
Gibt es thematische Unterschiede zwischen den älteren queeren Männern und den jüngeren?
Die grundsätzlichen Themen sind identisch. Die ältere Generation musste sich quasi in ihr Schicksal einfinden. Manche haben ihre sexuelle Orientierung gar nicht ausgelebt. Die Jüngeren sind diesbezüglich offener und freier. Sie horchen zudem mehr in sich rein. Damals musste man funktionieren, heute wird man schneller darauf aufmerksam, dass was bei einem nicht stimmt. Was die jüngere Generation weniger zu tangieren scheint, ist die Geschichte der schwulen Community. Sie nehmen es alles hin und setzen sich nicht mit den Kämpfen, die ausgefochten werden mussten, auseinander. Allerdings werden sie dennoch weiterhin zusammengeschlagen, auch wenn in den Medien queere Personen sehr schillernd auftreten. Ich habe beinahe das Gefühl, dass es heutzutage schlimmer ist, da sich die Gesellschaft mehr und mehr spaltet. Dadurch entstehen neue Gefahren für die jüngeren Generationen. Was auf jeden Fall zugenommen hat, sind Doppeldiagnosen. Wir haben nun kaum mehr Fälle von Klienten, die neben ihrer psychischen Diagnose keine Suchtthematik haben, insbesondere Partydrogen.
Warum ist der Schritt zum exzessiven Konsum von Partydrogen bei queeren Menschen kürzer?
Meiner Meinung nach gehört es dazu. Man wird ausgeschlossen, oder als Langweiler abgestempelt, wenn man nicht mitmacht. Das war bei anderen Drogen früher auch so, auch in meiner lang zurückliegenden Jugend (lacht). Aber sich bei einer Party was einzuschmeißen, weil man sonst keinen Spaß haben kann, das scheint mir neu. Es wird vorausgesetzt, insbesondere in der schwulen Szene. Ein großes Thema ist mittlerweile Chemsex. Die Einnahme harter Drogen wie Crystal Meth oder GHB beseitigt Hemmungen und öffnet für einige den Weg, die eigene Sexualität überhaupt ausleben zu können. Der Anspruch hat sich verändert.
Ab wann wird ein Konsum problematisch?
Ich bin Psychologe und kein Suchtberater, aber grundsätzlich ist es wie bei psychischen Erkrankungen: wenn man merkt, dass man den Anforderungen des Lebens nicht mehr gewachsen ist. Wenn man überfordert ist. Wenn es einem nicht aus eigener Kraft gelingt, die Überforderung zu bewältigen, sollte man sich Hilfe suchen. Dabei ist es auch hilfreich, sich ein Netzwerk aufzubauen und mit denen darüber zu sprechen. Wenn einem dann auffällt, dass es einer professionelle Unterstützung bedarf, sollte man das aber auch tun.
Allerdings fehlt es vielen an einem funktionierenden und unterstützenden Netzwerk. Das wiederum begründe ich auch mit der queeren Szene – hier ist es oftmals auf Oberflächlichkeiten fokussiert. Der Mangel an einem Netzwerk stellt ein weiteres Problem in der Bewältigung der eigenen Probleme bei vielen queeren Männern dar.
Sind viele deiner Klienten einsam?
Da gibt es nur eine Antwort: Ja. Ich erlebe es nicht selten, dass sich Klienten in die Natur oder zu Tieren flüchten, da sie Menschen als unzuverlässig erlebt haben. Bei vielen Leuten ist dann aber auch die Selbstmedikation mit Drogen diese Form der Menschenflucht.
Was machst du für deine Psychohygiene, und was rätst du queeren Menschen?
Für mich ist sehr wichtig, die Tür zur Arbeit mental zuzumachen. Das gelingt mir nicht immer, oftmals trage ich Sachen mit mir rum, aber prinzipiell ist die Installation der Tür im Kopf sehr hilfreich. Für alle geltend: Ausgleich suchen, etwas, das einem guttut. Was genau das ist, muss jeder für sich herausfinden. Pausen sind grundsätzlich sehr wichtig. Pausen vom Online sein, bewusst den Flugmodus nutzen, vielleicht auch mal einen ganzen Tag Digital-Detox, was den meisten Menschen sehr schwer fällt, aber nur so kann man voll mental abschalten. Dafür empfehle ich zudem autogenes Training, Meditation, Yoga, Bewegung, Sport, bewusste Ernährung. Ausgleichende Beschäftigungen, die nichts mit den Problemen, die man hat, zu tun haben – das ist aber sehr individuell. Für mich ist Kultur ein positiver Fluchtort. Die Suche nach dem passenden Ausgleich kann auch mithilfe eines Betreuers gestartet werden. Für mich ist das eine meiner Hauptaufgaben: herauszufinden, was ihnen noch Spaß macht und wodurch sie ihre Work-Life-Balance kreieren können.
Was sind Schwulenszene-spezifische Probleme in deinen Augen?
Ich fand es schon immer erstaunlich, dass gerade untereinander sehr viel diskriminiert und ausgegrenzt wird. Das halte ich für sehr problematisch. Mit einer Behinderung bist du so gut wie tot, aber auch ab dem 30. Geburtstag kannst du ebenso gut „eine Behinderung“ haben. Auch wenn man nicht dem gängigen Schönheitsideal bzw. der Gender-Identität entspricht. Wir versuchen bei der Schwulenberatung einen Ort zu kreieren, an dem niemand ausgegrenzt wird, die Schwulen untereinander grenzen sich aber extrem gegenseitig aus.
Wo siehst du den Grund für die Feindseligkeit untereinander in der Szene?
Die beste Erklärung, die ich in den Jahren dafür gefunden habe, ist, dass wenn du dein Leben lang gewohnt bist, ein Opfer zu sein, ist es extrem erleichternd, Täter zu sein. Man kommt aus der Opferrolle heraus. Wenn ich als Schwuler viel Zurückweisung erfahren habe, mag es mir guttun, die „Tunte“ an der Ecke nochmals zu shamen und auszugrenzen.
Du gehst am Rollator. Wie ist es, sich als schwuler Mann mit körperlicher Beeinträchtigung in der Szene zu bewegen?
Wir hatten ja schon über Ausgrenzung innerhalb der Szene gesprochen und die greift bei Menschen mit Beeinträchtigung natürlich ganz besonders intensiv. Jung und attraktiv sind die Attribute, die gerne gesehen werden. Eine Behinderung ist da eben eine Behinderung, im wahrsten Sinne des Wortes. Es beginnt mit den baulichen Gegebenheiten in der Szene. Es wird so gut wie gar nicht darauf geachtet, dass queere Orte barrierefrei sind. Nur sehr wenige ermöglichen Menschen mit Beeinträchtigung den Eintritt. Darkrooms befinden sich im Keller. Es kommt ja keiner auf die Idee, einen Fahrstuhl in den Keller zu bauen, sodass auch jemand im Rollstuhl Zutritt hat. Ich sag es jetzt einfach mal: Ich glaube, es ist auch nicht erwünscht, weswegen die baulichen Schritte gar nicht erst unternommen werden. Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen, die auf Hilfsmittel angewiesen sind, sind nicht willkommen. Körperliche Behinderung und queeres Leben in der Szene schließen sich gegenseitig aus. Es gibt einzelne Projekte, die sich an bspw. Rollis richten, im Sport vielleicht, aber ich könnte dir kein Projekt nennen, das sich spezifisch an diese richtet. In den einschlägigen Bars und Clubs fühlt man sich nicht willkommen. Auch im Umgang miteinander stellt es ein großes Hindernis dar.
Deckt sich das auch mit den Erfahrungen deiner Klienten?
Ich glaube, sobald dein Gegenüber realisiert, dass du nicht ganz so „pflegeleicht“ bist, wird es schwierig, es sei denn, du gerätst an einen Menschen, der darin kein Problem sieht, sondern eine Herausforderung, die er annehmen will. Aber grundsätzlich steht es einer Kontaktanbahnung im Wege, bspw. bei unseren Klienten, die in einer TWG wohnen. Das ist schon ein Hindernis. Mittlerweile scheinen mir Diagnosen wie Burnout und Depression nicht mehr so stigmatisiert – das kann man schon zugeben, zumindest bei der Arbeit. Aber es ist ein weiter Weg, bis man bei einem Kennenlernen von eigenen Beeinträchtigungen erzählt. Und da habe ich auch nicht das Gefühl, dass sich daran groß was ändert.
Eine Beeinträchtigung jeglicher Art kann aber als Chance gesehen werden, das eigene Leben anders oder neu zu betrachten und nicht so oberflächlich durch die Szene zu gehen. Vielleicht wäre ich heute noch, übertrieben gesagt, bis morgens um 4 Uhr im Darkroom auf der Suche nach dem Mann meines Lebens, wenn ich meine Beeinträchtigung nicht bekommen hätte. Ein solcher Schicksalsschlag, oder eine Veränderung im Leben gibt die Möglichkeit, sein Leben neu zu reflektieren und sich zu fragen: Was gibt es noch für mich? Aber vielleicht nicht DIE schwule Szene. Vielleicht hört man auch auf mit der Suche nach Mister Perfect, da man merkt, dass man selbst auch nicht perfekt ist. Herausfinden, dass es auch andere Sachen gibt, die einem Spaß machen. Und vor allem, dass man lernt, sich selbst lieb zu haben und zu akzeptieren – mit den Behinderungen und Problemen, die man hat. Das gilt aber für alle Menschen – wenn man sich selbst nicht liebt, projiziert man Dinge in die andere Person rein, die nie erfüllt werden können. Behinderungen, Krankheiten, Beeinträchtigungen, seien sie körperlich oder psychisch, sind eine Chance, das Ganze zu revidieren und zu schauen: Was gibt es denn noch, war ich auf dem richtigen Weg? Das war bei mir der Fall. Ich konnte sagen: Halt, Stopp, jetzt wende dich mal anderen Dingen in deinem Leben zu, die bislang zu kurz gekommen sind. Das ist ein hehrer Anspruch, ein hoffnungsvoller Ausblick, aber es ist nicht jedem gegeben – es ist ein Prozess. Auf dem Weg dorthin kann natürlich professionelle Begleitung hilfreich sein.
Lieber Ulli, vielen Dank für das Gespräch.
Wenn ihr auf der Suche nach Unterstützung seid, haben wir hier ein paar Kontaktnummern aufgelistet.
Für queere Männer:
https://schwulenberatungberlin.de/kontakt/
Inter*trans*Beratung
https://schwulenberatungberlin.de/angebote/queer-leben/
Für queere Frauen:
https://rut-berlin.de/
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