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Interview mit ADHD Records

von Friederike Suckert

Für die LGBTIQ+ Health Awareness Week habe ich Aaro und Mie von ADHD Records auf den Zahn gefühlt. In ihrem Musik-Label sind nur neurodiverse Menschen versammelt. Wir sprachen über die Erleichterung, die Akzeptanz im Arbeitskontext mit sich bringt und wie TikTok die Aufklärung über Neurodiversität revolutioniert. Unter dem Interview ist ein Glossar über bestimmte Begriffe im Text.

Wie habt ihr zueinander gefunden?
Aaro: Wir beide haben uns vor ca. vier Jahren getroffen und wir haben oft über Musik und ADHS gesprochen. Joel kenne ich auch so lang und wir hatten aus dem Nichts die selben Themen und hier sind wir nun.
Mie: Du hast sehr oft über Joel gesprochen und hast mich neugierig gemacht. Wann wir uns kennen gelernt haben, weiß ich allerdings auch nicht mehr. Vierte Person im Bunde, Jane, war Teil meines Freundeskreises und wir haben ursprünglich durch Tattoos zueinander gefunden. Dann haben wir irgendwann zusammen Musik gemacht und ich habe Jane für das Label vorgeschlagen.


Welche Erfahrungen habt ihr bisher in der Musikindustrie gemacht, dass es euch wichtig war, dieses Label zu gründen?
Aaro: Damals hatten wir eine Menge Projekte, an denen wir arbeiteten, weshalb wir uns zusammensetzten, uns gegenseitig halfen und unterstützten, diese zu finalisieren. Menschen mit ADHS oder exekutiven Störungen haben ja oft Probleme, die letzten Züge ihrer Arbeit zu beenden.
Mie: Als wir das Label gründeten, war uns wichtig, dass wir einen Safe Space für neurodiverse Menschen schaffen können, sodass diese Personen wachsen können ohne sich vor anderen verstellen zu müssen (d.h. masking). Gleichzeitig verbindet uns Neurodiversität und wir verstehen einander besser, weil wir wissen, wie die andere Person funktioniert.

Gibt es bei euch einen Unterschied in der Kommunikation, weil ihr mehr Rücksicht aufeinander nehmt?
Mie: Es hilft mir zu wissen, dass Misskommunikation nicht absichtlich ist, oder gewisse Probleme entstehen, weil wir eben so funktionieren, wie wir funktionieren. Wir sehen diese Dinge nicht als Problem, sondern als Teil von uns. Du arbeitest anders, wenn du nachvollziehen kannst, wie dein Gegenüber tickt. Mir ist es mit neurotypischen Personen oft passiert, dass sie schnell verärgert waren, wenn sie z.B. Dinge wiederholen mussten. Es stört den Flow, wenn ich zusätzlich mit der Genervtheit von anderen konfrontiert bin, weil sie nicht verstehen, dass meine Unaufmerksamkeit nicht absichtlich ist und für immer ein Teil von mir sein wird.
Aaro: Jede Person von uns arbeitet selbstständig an ihrem Projekt, aber kann bei Schwierigkeiten für Unterstützung auf das Label zurückgreifen. Die Zusammenarbeit ist einfacher für uns, da wir einander besser verstehen. Ich kann nachvollziehen, wenn jede*r zu viel über etwas redet - und ich muss mich nicht fragen, ob ich zur richtigen Zeit etwas sage. Mit neurotypischen Personen ist das anders.
Mie: Manchmal treffen wir uns, reden zwei Stunden angeregt über etwas, aber nicht über den Grund für das Meeting. Dann setzen wir das eigentliche Meeting eben nochmal an.
Aaro: Wir sind alle ungeduldig und langweilen uns schnell, deswegen bleiben wir auch nicht lang dabei, sondern setzen so schnell wie möglichen einen Haken. 

Seid ihr durch eure Ehrlichkeit mit Vorurteilen konfrontiert? Haben die Leute schon durch den Label-Namen ein Meinung von euch?
Mie: Manche Leute haben ein falschen Verständnis von ADHS. Bis ich 28 wurde, habe ich selbst an das Vorurteil geglaubt, dass Menschen mit ADHS nur Aufmerksamkeit wollen, bis ich mich über das Internet selbst aufgeklärt habe. Die Tatsache, dass ich selbst solange an diese Misinformation geglaubt habe, finde ich schon beunruhigend, zumal ich nicht finde, dass Aufmerksamkeit wollen etwas Schlimmes ist. Es ist ein ganz normales, menschliches Bedürfnis und hat verschwindend gering mit ADHS zu tun. Es gibt sehr viele Vorurteile und noch dazu werden ADHS und Autismus beispielsweise immer noch nicht wirklich ernst genommen. Aber in der musikalischen Zusammenarbeit spüre ich da nichts Negatives. Manchmal kommen auch Menschen und freuen sich über „ADHD Records“ und im Gespräch wird klar, dass sie nicht wirklich wissen, was das genau ist. Die, die neurospicy sind, fühlen sich wahrgenommen und schätzen daher unseren offensiven Umgang.
Aaro: Für Leute mit ADHS, Autismus etc. ist der Name eingängig. Man freut sich, wenn man sich auf Events mit Künstler*innen unterhält und feststellt, dass sie auf dem Spektrum sind. Es klickt sofort und es ist leichter, über gewisse Dinge zu sprechen.  Außer in unserem Alltag sind uns im Musik-Kontext keine Vorurteile begegnet.

Es verändert sich gerade viel: Es wird mehr drüber gesprochen. Leute erkennen an, dass es Neurodiversity gibt und möchten auch mehr darüber lernen. Meint ihr, es braucht trotzdem noch bessere Repräsentation?
Mie: Ja, denn viele verstehen noch nicht, wie ADHS funktioniert. Das meine ich urteilsfrei, denn es ist so komplex wie Gehirne an sich. Jeder hat von allem eine andere Auffassung und auch ADHS ist bei jedem anders, das kann verwirren. Außer von ein paar Schauspieler*innen weiß ich z.B. nichts über neurodiverse Musiker*innen. Da war bisher nie der Fokus drauf, aber ich würde es sehr befürworten, vor allem wenn ich deren Arbeit mag.
Aaro: Ich glaube nicht, dass das Neurodiversity-Spektrum unterrepräsentiert ist, weil sich sehr viele kreativ Schaffende darauf bewegen, nur wird der Fokus nie darauf gelenkt. Sie sind schon da, aber in der Zusammenarbeit ist es schwieriger mit neurotypischen Menschen, die einfach nicht den richtigen Umgang finden. Ein Producer sollte verstehen, wie jemand tickt. Ohne das Wissen sind viele Möglichkeiten für eine der beiden Seiten gestrichen. Es geht ja auch darum, ob man überhaupt offen für dieses Thema ist.

TikTok verändert viel. Durch den Algorithmus landet man schnell auf der ADHS-Seite. Es ist ein Fortschritt, dass die Menschen jetzt mehr darüber nachdenken und es auch als das Normale wahrnehmen, was es ist. Die andere Seite ist aber, dass manche ohne Diagnose einfach mal so sagen: „Oh, mein ADHS kickt!“, wenn es ihnen schwer fällt, sich zu konzentrieren. Was denkt ihr über ADHS als „Trend-Diagnose“ und diagnostizierte ADHSler*innen, die sich nicht ernst genommen fühlen, wenn auf einmal jede Person ADHS hat?
Mie: Es ist das erste Mal, dass wir niedrigschwellig an die Informationen kommen, uns damit auseinandersetzen und identifizieren können. Ich denke es ist wichtig, dass ADHS zu einem Trend wird, damit diese Informationen auch die betroffenen, noch nicht diagnostizierten Leute erreichen. Ich habe auch über das Internet festgestellt, dass ich ADHS habe. Vorher dachte ich, alle sind wie ich. Mir gefällt, was da gerade geschieht und ich erwarte eine große Welle von neuen Menschen, denen das klar wird. Ich denke auch vielen Leuten geht es wie mir: Sie haben ihre Symptomatik nicht bemerkt. Deswegen sollen so viele wie möglich darüber Bescheid wissen.
Egal, ob du eine Diagnose hast oder nicht: Sich gesehen fühlen macht schon den Unterschied. Für Medikamente brauchst du zwar eine Diagnose, aber TikTok Videos können dabei helfen, nötige Skills zu erlernen, die dein Leben verbessern könnten.
Aaro: Ich sehe da auch keinen Nachteil. Keine Person mit ADHS-Diagnose wird durch Leute geschädigt, die das einfach über sich behaupten. Es gibt keinen Backlash oder mehr Stigmatisierung. Wenn sich dein Leben verbessert: Go for it! ADHS wirkt sich auf so viele Aspekte in deinem Leben aus und online Tricks für den Umgang zu finden, hilft ich zeige gern neurotypischen Personen im meinem Umfeld die Videos, die kurz und lustig darüber informieren, was bei mir gerade abgeht. Ich weiß nicht, ob sie mich manchmal verurteilen, aber so können wir die Kommunikation verbessern. Es erspart stundenlange Erklärungen, bei denen dann meistens eh nichts hängen bleibt.
Mie: Jede*r kann etwas auf TikTok finden, was das Leben erleichtert. Aber gleichzeitig ist die App auch gruselig, so schnell und groß. Man fragt sich dann schon, ob jetzt alle ADHS haben und ja, vielleicht verharmlost man die Erfahrungen der Leute, die sehr darunter leiden. Aber ich bin ich bereit, das zu akzeptieren, damit diese Informationen da draußen sind. Es ist Teil eines großen Prozesses, der da im Kommen ist, um überhaupt Sichtbarkeit zu schaffen. Genauso wurde der „Genderwahn“ erfunden und als Bewegung wahrgenommen. Man wird ja nicht auf einmal trans, nicht-binär oder einfach queer, nur weil man davon hört, sondern man ist es und wird endlich gesehen und verstanden. Natürlich sehen Nicht-Betroffene nur einen Trend in all dem. Ich sehe ein Wachstum an Zugang zu Information und Betroffenen, hilft das ungemein und genau diese Menschen gilt es zu erreichen.