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Queerberliner Theaterstück „Multi –“

von Bastian Peters

Seit 2017 entführt das multikulturelle Theaterkollektiv OfW mit seinen immersiven Performances in die sumpfigen Abgründe der Berliner Stadtgeschichte. In diesem Jahr lockt die Truppe um den queeren Regisseur Philipp Urrutia an den sagenumworbenen Flutgraben, wo ein ganzes Wochenende lang ihr Stück „Multi –“ verschiedene Grenzgänge aushebt, erkundet und erlebbar macht.

 

Aus den Sümpfen ins Berghain

Wo einst Westberliner Punk-Kultur durch wenige Meter Wasser vom DDR-Wachschutz getrennt lag, vermischt sich heute das Feiervolk der geeinten Hauptstadt mit den Mediaspree-Minions. Dass ihre allnächtliche Spielwiese einst streng bewachter Grenzstreifen mit Schießbefehl war, wollen die wenigsten wissen. Nicht vergessen aber können das die liebenswerten Sprewanians: Angelehnt an die slawischen Ureinwohner Berlins, die trotz Morast und Sumpf schon ein halbes Jahrtausend vor Berlins Stadtgründung siedelten, handelt „Multi –“ von zwei zeitlosen Exemplaren der Sprewanians. Diese Spezies aus dem Grenzland zwischen Kreuzberg und Treptow begreift sich als in between, als multilingual und kosmopolitisch, jedes Handwerk beherrschend, in Lokalgeschichte bewandert, interdisziplinär kreativ. Sie tragen den Geist dieses traumatisierten Ortes in sich und leben in einer Multizweckhalle, die einst als Fabrikgebäude in den Todesstreifen hineinragte und heute Partymeile ist.

Tatort: Lohmühleninsel

Wie so oft kombiniert die OfW-Gruppe auch im neuen Stück queere Stadterzählung mit True-Crime-Elementen. Etwa mit dem Medienspektakel um den ‚Berlin-Ripper‘, der die Berliner Frauen in der Umgebung der Lohmühleninsel terrorisierte und der Presse gleichzeitig größte Auflagen verschaffte – eine Faszination, mit der gespielt und während der Performance hinterfragt wird. Gemeinsam mit Dramaturgin Lena Schulze Frenking und Gestalter Stéphane Mashyno hat OfW-Gründer Philipp Urrutia hier ein Stück über Grenzüberschreitung und Borderline-Erfahrung geschaffen, bei dem die Nachwuchsschauspieler Flin Deckert und David Gottlieb an der Stückentwicklung mitwirkten. Wie in den Jahren zuvor, bestimmt auch bei „Multi –“ der Raum das Setting des Stückes: Eine Multifunktionshalle in der ehemaligen Omnibus-Fabrik, die heute als unsaniertes Loft von Kreativen als Ateliers genutzt werden. 

Übung in Ambiguitätentoleranz

Der erst unscheinbare Titel „Multi –“ (engl. Multi Dash) lässt an lange Gedankenstriche denken, an ein unendliches Minus, an karthografische Linien. So weit, so OfW, denn diese unwägbaren Variablen machen den Reiz des Theaterkollektivs aus, das seit Jahren schon in anderen Berliner Bezirken auf Spurensuche ging und gemeinsam mit ihrem Publikum vorzugsweise Fragen offen ließ. Wer hier erwartet, auf der Bühne mit Antworten belohnt zu werden fürs Stillsitzen, wird enttäuscht werden. Wer allerdings das „Multi“ im Titel annimmt als eine Gleichzeitigkeit und -wertigkeit, die im intersektional-motivierten Heute das Gelten diverser Perspektiven anerkennt, darf sich auf einen queervollen Theaterabend einstellen.

 

 

OfW: Ohne festen Wohnsitz | „Multi –“
28. und 29. und 30. September 2023 | 20:00
Flutgraben | Am Flutgraben 3 | 12435 Alt-Treptow
Tickets hier zu erwerben

 

 

Philipp Urrutia
Flin Deckert
David Gottlieb